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Jacob Appelbaum: Ihre Illusionen über die BRD sind lächerlich

Zehlendorf, 7.8. 2015

Der US-amerikanische Aktivist und Journalist Appelbaum, bekannt aus Rundfunk und Fernsehen, hat kürzlich in der Zeit einen Artikel erscheinen lassen. Dieser Text verdient es, hier dokumentiert und kommentiert zu werden, weil er ein Konzentrat all jener nützlichen Irrtümer und Lebenslügen darstellt, die sich im journalistischen Milieu festgefressen haben und schon längst der Aufklärung von Staatsverbrechen viel hinderlicher sind als der Widerstand der staatlichen Organe selbst.

Im Sommer 2013 traf ich in Berlin ein und beantragte ein Journalistenvisum. Neben den Dokumenten, die ich einreichen musste, konnte ich Empfehlungsschreiben des Spiegels und von netzpolitik.org vorlegen. Dank deutscher Journalisten fand ich eine neue Heimat, in der es möglich war, über Verbrechen der Mächtigen zu berichten, geheime Tötungslisten, Massenüberwachung, die sogenannte gezielte Ãœberwachung, Wirtschaftsspionage und politische Spionage. In Deutschland fand ich einen Zufluchtsort, denn in Amerika ist die Situation für unabhängige Journalisten, die auf dem Gebiet der „nationalen Sicherheit“ arbeiten, unerträglich geworden.

Nein, Herr Appelbaum, Sie haben in der BRD keine neue Heimat gefunden, zumindest keine, in der Sie ohne weiteres über die Verbrechen der Mächtigen berichten können. Ein Zufluchtsort wird die BRD für Sie nur sein, wenn Sie über die Verbrechen fremder Mächte berichten, am Besten über die des russischen Staates. Auch über die Verbrechen der USA können Sie berichten. Machen Sie aber nicht den Fehler, ihre Empfehlungsschreiben des transatlantischen Establishments dazu zu benutzen, jene Machtstrukturen klar zu benennen, die hinter den Verbrechen stehen. Versehen Sie Ihre Berichte mit einer moralischen Sauce, die die Mentalität der Deutschen anspricht, aber sagen Sie um Gottes Willen nichts über Staatspolitik und multilaterale Verträge.

Man muss bei Gesprächen vorsichtig sein, hat Angst vor Spitzeln, muss davon ausgehen, dass Wohnungen und Telefone abgehört und Autos mit Peilsendern versehen werden. Gegen fast jeden, der als Journalist bei WikiLeaks mitarbeitet, mich eingeschlossen, wird wegen Spionage ermittelt. Wir gelten als Landesverräter, einflussreiche Politiker fordern für meine Kollegen und unsere Quellen den Tod. Ziel dieser Einschüchterungsversuche ist es, albtraumhafte Verhältnisse zu schaffen und uns auf diese Weise mundtot zu machen.

Glauben Sie wirklich, dass diese Verhältnisse in der BRD nicht schon längst Wirklichkeit geworden sind, ja immer schon Wirklichkeit waren? Für uns ist es selbstverständlich, überwacht zu werden, nicht nur von den Geheimdiensten sondern auch von den Polizeibehörden. Was veranlasst Sie zu der Vermutung, in der BRD gebe es das alles nicht? Wer aufmuckt, wird verfolgt, und wenn es auch nicht der Tod ist, den man uns wünscht, so vernichtet man uns doch seelisch und wirtschaftlich. Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich Ihnen sagen, dass man meine Frau und alte Freunde in hinterhältiger Weise angesprochen hat; Zersetzungsvorgänge gehören längst zu unserem Alltag.

Mundtot (wir sagen Mundlos) wird man uns natürlich nicht machen, dazu müsste man uns schon umbringen. Landesverräter ist ein großes Wort; was wäre, wenn man Ihnen die wirtschaftliche Existenz wegnimmt und Ihre Ehe zerstört, ohne große Medienöffentlichkeit? Wenn man es schafft, dass Sie sogar für Ihre Freunde nach Scheiße riechen, bis ans Ende Ihrer Tage?

Die deutschen Geheimdienste wollen auch hierzulande ein solches Klima schaffen. Man will von der eigenen Rolle im NSU-Skandal ablenken. Es geht also in diesen Fragen nicht nur um NSA, FBI oder CIA.

Womit wir beim Kern der Sache wären. Natürlich geht es bei der derzeitigen Aufwallung nicht um „die Überwachung“ oder gar die so genannte Pressefreiheit; diese Themen sind längst gegessen. Wir leben in einem Überwachungsstaat, und die Presse in diesem Land hat sich in ihre Rolle gefügt, Routinen und Instrumente für das Spiel einer demokratischen Öffentlichkeit entwickelt.

Das ist alles nicht wichtig.

Lieber Herr Appelbaum! An Ihrem Namen sehe ich, dass Sie, wie ich, von Menschen aus dem ehemaligen Machtbereich der österreichischen Monarchie abstammen. Ganz egal, woher Ihre Leute gekommen und wohin sie gegangen sind, so können wir doch von außen einen gemeinsamen Blick auf die wahren Ursachen der deutschen Misere werfen, die hinter der derzeitigen Aufregung steht.

Vergessen Sie für einen Moment alles, was Sie über die BRD wissen; dieses Land ist bis heute, zumindest im Norden, von einer Mentalität geprägt, die der Realität des Gemeinwesens eine sehr geringe Bedeutung beimisst. In der Tradition Martin Luthers wird von den meisten Menschen alles ausgeblendet, was auf grundsätzliche Fehler der weltlichen Ordnung hindeuten würde. Der Staat (heute die so genannte Demokratie) ist eine pseudoreligiöse Kategorie, der man so unbedingt anhängt wie die Katholiken der Katholischen Kirche. Wahrscheinlich ist diese Haltung aus dem Phantomschmerz nach dem Verlust der päpstlichen Autorität heraus entstanden.

Das, was unser Leben bestimmt, heute also auch die NATO und die Finanzherrschaft, wird nicht grundsätzlich hinterfragt, es wird nicht in die Verantwortung genommen und nicht sinnvoll verändert sondern angebetet und beschützt.

Alle negativen und bedrückenden Erscheinungen, die ganz offenkundig auf die weltliche Ordnung zurückgehen, werden auf metaphysische Ursachen zurückgeführt und moralisch diskutiert. Wenn es zum Beispiel offenbar wird, dass man uns flächendeckend überwacht und entwürdigt, dann sind daran nicht die politischen Apparaturen der NATO und der anderen zentralen Machtstrukturen schuld sondern „das Böse“, wie Martin Luther gesagt hätte. Es ist die Massenüberwachung selber, die schuld ist, nicht die Bundeskanzlerin. Bestenfalls „der Verfassungsschutz“, der ja in Wirklichkeit nichts anderes ist als eine lächerliche Filiale der CIA, wird oberflächlich beschuldigt.

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(Lakai und moralischer Dummy: Hans Georg Maaßen)

Es wird Ihnen schon aufgefallen sein, dass die Deutschen sehr klug sind, dass man sie aber auch sehr leicht hinters Licht führen kann. Der „NSU“ ist so eine Finte. In dieser Affäre ist nichts, wie es scheint. Hier hat man die Bereitschaft der Deutschen ausgenutzt, die Augen vor der Realität zu verschließen, wenn es darum geht, gegen abstrakte Größen, gegen „das Böse“ zu kämpfen. Die ausschließliche Fixierung auf die Moral hindert selbst intelligente Menschen, sofern sie nicht sowieso korrupt sind, daran, den Fall zu verstehen oder wenigstens elementares Wissen dazu aufzunehmen. Auch Ihnen ist es bisher so ergangen.

Das ganze Geschrei um die Netzpolitiker ist eine Ersatzhandlung, die gesetzt wird, weil die Deutschen Angst davor haben, über die Realität im Fall „NSU“ zu sprechen. Es ist, als ob man über Bienen und Blüten spricht statt über Sex.

Am 1. August zogen Tausende Demonstranten in Berlin zum Justizministerium. Sie erklärten: Wir halten zu netzpolitik.org und lassen uns nicht einschüchtern. Drei Statements wurden klar formuliert. Erstens: Die Geheimdienste entziehen sich jeder Kontrolle. Mit ihrem Vorgehen gegen die Schwächsten wollen sie die Medien einschüchtern. Zweitens: Die Geheimdienste wollen Informanten Angst machen. Sie verfolgen Whistleblower, die mutig Tatsachen und Verfehlungen des Staates enthüllen.

Seien Sie mir nicht böse, aber die illusionäre und zutiefst idealistische Haltung der norddeutschen Protestanten hat Ihre Sicht der Dinge bereits tief geprägt. Natürlich ist der Geheimdienst nicht „gegen die Schwächsten“ vorgegangen sondern gegen gut vernetzte Gruppen, die die politische Macht besitzen, den obersten Ankläger der BRD zu Fall zu bringen. Der Bundespräsident selbst hat kürzlich die Leute von Netzpolitik.org geehrt. Die Schwächsten stehen ganz woanders.

Und an der Anklage gegen die „Verfehlungen“ des Staates erkennen Sie wieder den moralischen Ton, der der göttlichen Ordnung des Staates huldigt; der Staat selbst hat sich an seinen Idealen vergangen, wenn man diesen Worten glauben darf.

Tatsächlich hat er nur seine Agenda umgesetzt; vielleicht ein wenig dumm, das kann schon sein.

Leute wie die Netzpolitiker hat es in Deutschland schon immer gegeben. Es handelt sich dabei um eine religiöse Opposition, in ihrem Oppositionsgeist vergleichbar zum Beispiel mit der Haltung der Ihnen vielleicht bekannten Bekennenden Kirche. Pastor Niemöller, einer ihrer profiliertesten Vertreter, war selber Nationalsozialist und ist allein aus religiösen Gründen in eine Gegnerschaft zum System geraten. Er hat sich geweigert, die Realität dieses Systems zu sehen, und selbst noch im Konzentrationslager ist er nicht aus seiner wahnsinnigen Abstraktion herausgekommen. Als der Krieg ausbrach, wollte er U-Bootkommandant werden, trotz aller „Verfehlungen“ des Staates.

Im besten Fall sind Ihre netzpolitischen Freunde solche vernagelten Idealisten, wenn ihnen auch alles Völkische und wohl auch Religiöse fern liegt.

Herr Appelbaum, es braucht eine Opposition, die bereit ist, die Realität zur Kenntnis zu nehmen, wenn es in der BRD in Zukunft anders zugehen soll als in den USA.