Adnoten zur Theorie des Oktoberfestattentats: Klugscheißer in Action
März 2015, Berliner Nobelviertel
Der Anschlag auf das Oktoberfest im Jahr 1980 ist, wie alle staatsterroristischen Verbrechen, nicht nur eine kriminalistische und eine politische Herausforderung, man möchte sagen, auf Leben und Tod der bürgerlichen Ordnung, sondern auch ein wissenssoziologisches Problem. Da an dieser Stelle keine Vorlesung gehalten werden kann, müssen die Probleme, die mit diesem Aspekt einher gehen, auf ein paar einfache Perspektiven herunter gebrochen werden.
Das, was wir über das Oktoberfestattentat wissen können, ist nicht das, was auf die tatsächlichen Vorgänge im Zusammenhang mit diesem Verbrechen verweist, sondern das, was uns von den Autoren seiner Geschichte weis gemacht werden sollte und soll. Wir haben es dabei mit einem Wissen zu tun, das jeweils ausgesprochen radikale Erzählhaltungen repräsentiert, die wiederum genau jener Interessenskonstellation entsprechen, die sich um die tatsächlichen Vorgänge und ihre Hintergründe formiert.
Wir haben es mit drei Bereichen von Wissen zu tun.
Da ist zunächst jener scheinbar „harte Kern“ von Wissen, das uns von den Ermittlungsbehörden, insbesondere der SOKO Theresienwiese in den Ermittlungsakten zum Oktoberfestattentat erzählt wird. Dieses Wissen entspricht im Groben dem Stil des polizeilichen Handwerks; da es sich offenkundig um einen politisch brisanten Ermittlungsgegenstand handelt, ist dieses Wissen zwar umfangreich, aber vor einer umfassenden Kenntnisnahme durch seine schiere Masse und den technischen Verschluss sowie durch so genannte Ermittlungsfehler geschützt. Diese Schutzmechanismen sichern dieses Wissen vor einem direkten Zugriff durch den analytischen Verstand, verhindern also seine unmittelbare Wirksamkeit in der Analyse der tatsächlichen Vorgänge.
Der zweite Bereich ist der der aktenkundigen oder beweisfähig dokumentierbaren Spuren und Scheinspuren, die sich außerhalb der eigentlichen behördlichen Ermittlungen um das Oktoberfestattentat legen oder die gelegt worden sind. Dieser Bereich ist nicht scharf abzugrenzen; er umfasst zahllose Dokumente und Zeitzeugenaussagen im Umfeld der tatsächlichen Vorgänge des Anschlags oder seiner vorgestellten Hintergründe. Auf hunderttausenden Seiten polizeilichen Aktenmaterials, geheimdienstlicher Aufzeichnungen oder in Gerichtsakten und Erinnerungen von Zeitzeugen werden jene Vorgänge dokumentiert, die sich in die Deutung des Verbrechens, aus welcher Sicht auch immer, fügen mögen. Das Geflecht dieser Spuren und Scheinspuren ist strittig sowohl seiner Bedeutung für die Analyse der tatsächlichen Vorgänge als auch seiner Authentizität selbst nach. Angesichts der offenkundigen Unzulänglichkeit der Erzählung der SOKO Theresienwiese ist die Kenntnis dieses Wissens aber unumgänglich, soll es um eine über eine bloß technische Wahrheit des Verbrechens hinausgehende Deutung der Ereignisse gehen, und selbst eine bloß technische Wahrheit wird von der SOKO Theresienwiese ja nicht erzählt.
(Gustav Gründgens als Mephisto erklärt das Nötigste)
Dieses Geflecht an Apokryphen verrät die Umrisse unterschiedlicher Deutungen der Ereignisse; es stellt ein Gefechtsfeld der Geheimdienste und ihrer Widersacher dar, bis hin zur physischen Auslöschung von Menschen in der Absicht, die Deutungshoheit über den Anschlag zu gewinnen. Die Art der Beziehung dieses Wissens zu den tatsächlichen Ereignissen ist widersprüchlich; wenn in den Ermittlungsakten der SOKO Theresienwiese die Sprache des Ermittlungsfehlers die Grenze des noch mitteilbaren Wissens beschreibt, so ist diese Grenze bei den Wissens-Apokryphen durch die plakative Fälschung gezogen, die routiniert bei der Aktenherstellung eingesetzt wird oder in Akten und Erinnerungen indirekt deutlich wird. Auch die klassische Intrige als geheimdienstliches Drama ist ein wichtiges Strukturmerkmal dieser Art von Wissen über das Attentat.
Der dritte hier interessierende Wissensbereich ist der der öffentlichen Deutung. Während die beiden zuvor genannten Wissensbereiche sich ihrer Natur nach zunächst der öffentlichen Wahrnehmung entziehen, ist das Wesen des Wissens in diesem Bereich, vereinfacht gesagt, die öffentliche Behauptung der Wahrheit eines bestimmten Deutungsmusters der Ereignisse.
Diese öffentliche Deutung ist der Empirie nach vor allem die einer Vergröberung und ideologischen Zuspitzung all dessen, was in den ersten beiden Wissensbereichen entfaltet wird. Je nach institutionellem Interesse oder persönlicher Disposition wird aus den genannten Wissensbereichen, eingeschlossen der Historie der öffentlichen Deutung, eine aufgrund der Konstitution der Erzähler zumeist notwendig kitschige und ohne Not gegen Unschuldige gerichtete Nacherzählung von ohnedies problematischem Wissen abgeleitet. Im Ergebnis steht zu allermeist die Lüge oder die lügenhafte Schlamperei der Deutung unter selektiver Präsentation des aus dem Zusammenhang gerissenen, der Wissensbasis und des schlüssigen Deutungsrahmens entfremdeten Faktums.
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Auf gut Deutsch: Es gibt Ermittlungsakten zum Oktoberfestanschlag, Akten und Aussagen, die ihn selber und die Intrigen in seinem Umfeld erhellen können, und es gibt das journalistische Geschwätz, das wir umbringen.