Gundolf Köhlers vermülltes Auto: Ausgewertet wird, was uns in den Kram passt
Wiesbaden, 30. September 1980
Im Bundeskriminalamt wird eine Asservatenliste fertiggemacht, die den alltäglichen, müllartigen Inhalt desjenigen Wagens dokumentiert, den Gundolf Köhler am Tag des Anschlags benutzt haben soll. Die Liste verweist auf allerhand nichtssagenden Kram, so auf Werbeprospekte des Oktoberfestes, Einkaufslisten, Cola-Dosen und Autozubehör. Aus einem Grund, der heute leicht erklärlich scheint, markiert der zuständige Beamte, ein Kriminaldirektor namens Köhler, ein bestimmtes Asservat und drängt es seinen späteren Lesern im Innenministerium geradezu auf:
(Asservatenliste des BKA E0 22-3, TGB Nr. 230-80, Blatt 8)
Es handelt sich um einen handbeschriebenen Zettel, auf dem der Name eines Mannes steht. Der Mann, heute bekannt aus allerhand investigativen Büchern staatstreuer Literaten, wird vom Bundesarchiv anonymisiert, ganz im Gegensatz zu zahllosen anderen Personen, deren Schutzbedürfnis in den Akten gar nicht zu bestehen scheint.
(Mitteilung des BKA an das Bundesministerium des Inneren, 1.10. 1980)
Dr. L. habe am Tag vor dem Anschlag einen Vortrag gehalten, an dem Gundolf wohl dabei war. Thema des Vortrages sollen angeblich die „Konzentrationslager“ gewesen sein, was beim Leser natürlich sofort die Assoziation der revisionistischen, bösen Geschichtsbetrachtung auslösen muss. Vollkommen klar, denkt der an Chaussy geschulte Antifaschist, da wird er sich seinen Hass abgeholt haben, um am nächsten Tag auf der Theresienwiese alles rauszulassen.
Am 1. Oktober 1980 sind die Ermittlungsarbeiten aber noch jung; man ist sich ein wenig im Unklaren über die Richtung des Verdachts. Insbesondere beim BKA ist man hin- und hergerissen zwischen jenen Einflüssen, die den „rechten Terror“ verfolgen wollen und jenen, die einen „Einzeltäter“ bevorzugen. Wir wissen heute, dass zu diesem Zeitpunkt der BND das Ruder mit aller Gewalt in Richtung WSG Ausland drehen will und auf den Generalbundesanwalt genauso wie den Innenminister einwirkt. Beim BKA will man davon aber noch nichts wissen und stellt allgemeine Überlegungen zur Sicherheitslage an.
(Mitteilung des BKA an das Bundesministerium des Inneren, 30.9. 1980)
Man kommt also kurz nach dem Attentat zu dem Schluss, dass Köhler die Bombe zum betreffenden Zeitpunkt nicht bewusst ausgelöst habe (kein Selbstmordanschlag) und eine Beteiligung der ehemaligen WSG ohnehin nicht nachweisbar sei. Der ganze WSG-Scheinspurenkram interessiert Kriminaldirektor Köhler nicht die Bohne. Da rutscht ihm die Formulierung raus, dass man es nicht mit einer Gruppe in der Bundesrepublik zu tun habe, die ein solches Niveau des wahllosen Tötens erreicht habe.
Das klingt ein wenig so, als ob die zu suchende Gruppe nicht in der Bundesrepublik zu suchen sei sondern anderswo, aber gut. KD Köhler will nicht allzu klar werden, was nachvollziehbar ist. Der Einzeltäter erscheint ihm akzeptabler als die absurden Geschichten des BND.
Eiskalt schwenkt KD Köhler dann plötzlich zur Relevanz des Ganzen für die Sicherheitslage im Land: Von der nicht in der Bundesrepublik zu suchenden Gruppe, von diesem Nichts, an sich scheint ihm keine Gefahr auszugehen. Eher fürchtet er, oder sagt das zumindest, Nachahmungstäter, wobei ihm auf der Rechten ein größeres Potenzial zu bestehen scheint.
Man könnte jetzt zur Tagesordnung übergehen; im Müll von Köhlers Auto findet sich aber noch allerhand weiteres Material.
(Asservatenliste des BKA E0 22-3, TGB Nr. 230-80, Blatt 8)
Gundolf Köhler hatte einen Zettel im Kofferraum mit der Anschrift einer unauffälligen Doppelhaushälfte im noblen Geiselgasteig bei München. Diese Anschrift ist insofern bemerkenswert, als die SOKO Theresienwiese bei ihrer Auswertung einen kleinen Ermittlungsfehler macht. Sie „verwechselt“ nämlich diese Anschrift mit einer anderen Anschrift, die die gleiche Hausnummer trägt und scheinbar die gleiche Straßenbezeichnung: Münchner Straße, Geiselgasteig, Gemeinde Grünwald bei München.
Wie kann so etwas sein? Gleiche Hausnummer, gleiche Straße, gleiche Gemeinde, gleicher Ortsteil? Und trotzdem verwechselt, Herr Kommissar?
Nun muss der Leser wissen, dass das Umfeld dieser geisterhaften Anschrift durchaus selber geisterhaft war und ist. Es handelt sich um ein Nobelviertel, die reichste Gemeinde Deutschlands. Dort, wo einst der Kriminalist Wilfling den toten Rudolph Moshammer gefunden hat, wo die Isar so schön durchs Gelände rauscht und die Bavaria Filmstadt um die Ecke liegt. Das beste Viertel, das es für Geld zu kaufen gibt. Und hinter der Isar, nur ein paar Kilometer Luftlinie entfernt, ja, da liegt die ehemalige Reichssiedlung mit dem Hauptquartier des BND.
(Weg von der BND-Zentrale, rot, in Pullach in die Nördliche Münchner Straße, Geiselgasteig, grün. Adresse von Köhlers Zettel)
Des Rätsels Lösung: Die Münchner Straße gibt es zwei Mal; eine Südliche und eine Nördliche Münchner Straße. In der Südlichen Münchner Straße gibt es jene Hausnummer, die auf Köhlers Zettel steht, tatsächlich auch. Ein größeres Gebäude mit Wohnungen und Büros von Beratungs- und Immobilienfirmen. Um 1980 war das auch schon so. In der Nördlichen Münchner Straße steht die fragliche Doppelhaushälfte, die die SOKO Theresienwiese so gar nicht beachtet hat. Es ist jene Adresse, die man in Köhlers Auto fand, ein Wohnhaus, Mitte der 70er-Jahre erbaut.
Die Leute, die heute dort wohnen, wissen von nichts. Freundliche Leute, die noch nie etwas vom Oktoberfestattentat gehört haben. Und 1980 wohnte dort jemand anders.
Gundolf Köhlers Kontakte zur Oberschicht. Oder so. Es leuchtet ein, dass man andere Adressen hervorzuheben hatte im Asservatenverzeichnis für den Minister.